Lost Highway: David Lynchs faszinierender, verstörender Alptraum aus Sex und Gewalt, in dem der Wahn Sinn macht.
„I’m deranged“ stimmt David Bowie in der Credit-Ouvertüre das Wiegenlied des Wahnsinns an, der ein exzentrisches Forum bekommt in David Lynchs Comeback „Lost Highway“. Die Geschichte eines Musikers, der seine Frau ermordet haben soll und in der Gefängniszelle zu einer in Erscheinungsbild und Charakter anderen Person mutiert, sperrt sich couragiert konventionellen Erzähltraditionen, verstört mit Auflösung von Raum-, Zeit- und Realitätsbegriffen und empfiehlt sich als nachwirkendes labyrinthisches Kinorätsel, das - zwischen Kriminalfilm und Psychosenstudie balancierend - viele Fragen aufwirft, aber keine Antworten liefert und damit neugierige Zuschauer zu cineastischen Wiederholungstätern machen könnte.
Denn kaum ist man aus dem 135minütigen Alptraum eher verwirrt als orientiert erwacht, möchte man sich schnellstmöglich erneut Lynchs Dämonen stellen. „Lost Highway“, sein erster Film nach vierjähriger Pause, ist eine halluzinogene Kinodroge, deren Poesie des Grauens und visuell-akustischer Gestaltungswillen (Lynchs gewohnte Akzentuierung des Sounds) Euphoriezustände auslösen, für deren Genuß aber der Zuschauer später mit schweren mentalen Nachbeben dank interpretatorischer Verunsicherung Tribut zahlen muß. Was ist real, was Traum? Täuscht das Auge den Verstand oder umgekehrt? Fragen, die sich schon zu Beginn dieses Films stellen, an dem Lynch am deutlichsten seinen ersten Erfolg „
Eraserhead“ zitiert. Nahezu wortlos leben Saxophonist Fred Madison (Bill Pullman) und seine Frau Renee (Patricia Arquette) in einem Haus aneinander vorbei, in dem das Licht gegen das Dunkel einen vergeblichen Kampf führt. Düsternis greift um sich, schafft uneinsehbare Räume, in denen Fred, zerfressen von der Vorstellung, Renee könnte eine Affäre haben, die eisige Präsenz eines Dritten zu spüren glaubt. Eines Nachts taucht er in die Schwärze seines Schlafzimmers ab und trifft, so darf man vermuten, seine dunkle Seite, sein zweites Ich. Am nächsten Morgen wird Renee abgeschlachtet im Schlafzimmer aufgefunden, doch Fred kann sich an nichts erinnern. Verhaftet und schließlich verurteilt, landet er im Gefängnis, bis er eines Tages spurlos aus seiner Zelle verschwindet, und der junge Pete Dayton (Balthazar Getty) scheinbar durch Geisterhand an seine Stelle tritt. Bis hierhin spielt Lynch virtuos, aber mit eher einfachen filmischen Mitteln (Unschärfe, extrem zurückgenommenes Licht, Kamera nah an den Personen) mit einem potentiellen Gruselszenario, das Atmosphäre und verschiedene Motive seines unterschätzten Kinotrips „
Twin Peaks - Fire Walk With Me“ rekapituliert: Rote Vorhänge, ein unheimlicher Zeremonienmeister (Robert Blake), der als einziger die Zusammenhänge zu kennen scheint und die vermeintlich spürbare Gefrieraura eines Dritten (wie Evil Bob aus „
Twin Peaks„), der nichts anderes sein könnte als das Resultat einer Persönlichkeitsspaltung.
Nach dem spurlosen Verschwinden Pullmans wird die Figur Balthazar Gettys zum Fixpunkt der von Lynch und Koautor Barry Gifford (schrieb die Romanvorlage zu „Wild at Heart“) alptraumhaft entwickelten Geschichte, die der Regisseur selbst als „21st-century noir horror film“ bezeichnet, dabei aber auch Anleihen bei Hitchcocks Meisterwerk „Vertigo“ verrät. Zur femme fatale und Geliebten eines Gangsters (Robert Loggia) mutiert, taucht die nun erblondete Patricia Arquette wieder auf, verdreht Getty berechnend den Kopf. Seine zentralen Motive - Sex, Gewalt, Schizophrenie - noch einmal forcierend, treibt Lynch seinen Film auf ein Ende zu, das mit Paradoxien spielt, Raum läßt für eigene Interpretationen und den Zuschauer in einer Kreisbewegung zum Anfang zurückführt. Ein wahrhaft wicked game, das Lynch mit den Mitteln suggestiven Horrors hier zelebriert. Seine Fangemeinde sollte sich mit größerem Zuspruch als zuletzt („Twin Peaks - Fire Walk With Me“ hatte enttäuschende 145.000 Zschauer) daran beteiligen. kob.