Was ist die Identität einer Figur? Ihr Aussehen? Ihr Verhalten? Was sie erlebt hat? Was wir von ihr wissen? Todd Solondz untersucht in Palindrome diese Fragen: Die Hauptfigur wird von zwei Frauen, vier Mädchen zwischen 13 und 14 Jahren, einem zwöfljährigen Jugen und einem sechsjährigen Mädchen gespielt. In jedem Kapitel des Films wird Aviva von jemand anderem dargestellt, und was zunächst verwirrend erscheint, entfaltet doch einen eigenen Zauber: Denn der Zuschauer gewöhnt sich an die Wandlung der Gestalt in dieser Geschichte von der Suche nach der Liebe.
Menschen ändern sich nie, sagt im Film Mark, der als Pädophiler angeklagt ist. Sie meinen, sich zu verändern, aber sie bleiben immer gleich. So wie Wörter, die man vorwärts und rückwärts lesen kann, Palindrome wie die Namen Aviva oder Otto. Unter der Oberfläche bleibt alles gleich: Die Familie Victor, die Eltern von Aviva, die sie zur Abtreibung zwingen und diesen Schritt mit ihrer Liebe begründen, und die happy familiy der Sunshines, die vollkommen konträr zu den Victors steht, die aber dennoch aus Liebe zum Herrn Jesus einen Killer beauftragen, um den Abtreibungsarzt Dr. Fleischer zu töten: Fleischer means butcher!
Aviva ist Einzelkind, überfüttert mit all der Liebe der Eltern; und dennoch fehlt ihr etwas, sie will Babys haben, viele Babys zum Liebhaben. Die Sunshines sind eine fröhliche Großfamilie, die sich zusammengefunden hat aus den Ausgestoßenen der Gesellschaft. Blinde, Epileptiker, geistig Behinderte sind vereint im Glauben an den Herrn in einem freundlichen Waltons-Heim und unter der Oberfläche aus Liebe brodelt der Hass auf die Andersgläubigen, Anderslebenden, auf die Huren und Abreibungswilligen. Die Form ist anders, doch der Kern ist der Gleiche Sunshine als das Palindrom zu Victor. Unter den Anstrengungen der Selbstverleugnung werden die eigenen Wünsche und die der anderen unterdrückt, unter dem Deckmantel der Liebe; einer Liebe, die stets eine Lücke in der Seele hinterlässt, weil sie nicht vollkommen ist; eine Lücke, die gefüllt werden will, oder verdrängt wird, in der eigenen Seele und in den Seelen der nachfolgenden Generation. Der Mangel pflanzt sich unerbittlich fort.
Solondz arbeitet auch mit dem Zuschauer. Indem er den Film mit seinen klug ausgearbeiteten und vollendet geformten Figuren vorführt, indem er subtil und suggestiv Identifikation erzeugt, auch mit einer Figur, die von acht Schauspielern dargestellt wird und indem er zugleich den Zuschauer auf Abstand hält, indem er in kleinen Momenten den Teil im Gehirn des Zuschauers anspricht, der um das Gemachte des Films weiß und sich nicht darin verliert. Emotionale Nähe und intellektuelle Distanz: Indem Solondz die Figuren dem Zuschauer nahe legt und sie zugleich in diesen Momenten als krass anders zeigt, als man sich Menschen vorstellen kann. In diesen Momenten wird Abtreibung zu Liebe, die Grenze zwischen medizinischen Untersuchungen und pornografischen Fotos verschwimmen, und aus den Figuren kommen ganz derbe Witze, ohne dass der Film es bemerkt; nur der Zuschauer (und vielleicht der Regisseur) lachen bitter auf: Mama Sunshine erzählt von einem indischen Mädchen, das aus ihrem Sonnenschein-Heim nach Hause wollte und fortgelaufen ist dabei hatte es keine Beine und kam nicht einmal nach India, Tennessee.
Fazit: Einfühlsamer Film über die Traurigkeit von Menschen, die keine Liebe erfahren; oder zu wenig; oder die falsche.