City of God: Triumphales und atemberaubend wahrhaftiges Meisterwerk über das brutale und selbstzerstörerische Jugendbandenwesen in den Favelas von Rio de Janeiro.
All die Wunderdinge, die seit der Weltpremiere in Cannes 2002 über Fernando Meirelles‘ mit Hilfe von Katja Lund inszenierten Meisterwerk geschrieben wurden, jeder Superlativ, jede Eloge, jede begeisterte Äußerung, entsprechen der Wahrheit. Die Verfilmung von Paulo Lins‘ 700-seitigem, über mehr als 300 handelnde Personen verfügende und sich über 30 Jahre erstreckende Roman über das Jugendbandenwesen in den Favelas, den Armenvorstädten von Rio de Janeiro hat die Energie und Wahrhaftigkeit von Scorseses „GoodFellas“ und die Respektlosigkeit und Freiheit im Umgang mit Erzählstruktur eines „Pulp Fiction“, ohne auch nur ein Frame wie eine Kopie zu wirken. „City of God“, zum Bersten gefüllt mit wilden erzählerischen Hakenschlägen, furiosen Einfällen und brasilianischem Funk, ist originell, elektrisierend, im wahrsten Sinne atemberaubend und - natürlich - ein Triumph auf ganzer Linie.
Alles beginnt mit einem einigermaßen zerrupften Huhn. Verfolgt durch die Straßen von ein paar Jugendlichen gerät es schließlich zwischen die Fronten eines Straßenkrieges zwischen Gangs und Polizei. Wie so oft in diesem Film wird die Szenerie angehalten: Um zu erklären, wie es zu dieser prekären Situation kommen konnte, spult Mereilles eben mal zweieinhalb Jahrzehnte zurück, um nach aufregenden und explosiven zweieinhalb Stunden wieder bei diesem Bild anzukommen. Auf dem Weg wird in einem wahren Parforceritt die Geschichte der Gangs in den Slums von Rio de Janeiro absolut erschöpfend erzählt: von den bescheidenen Anfängen in den sechziger Jahren über die auch in der Wahl der Waffen und Drogen zunehmend härter werdenden Siebziger, in denen die Bandenkriege ausufern, bis hin zu den Eighties, in denen das Imperium zu bröckeln und die Selbstzerfleischung einzusetzen beginnt. All das wäre nicht unbedingt neu im Kino, aber gerade wie sich „City of God“ dieser altbekannten „Scarface“-Thematik annimmt, macht ihn so überwältigend: Die Örtlichkeiten sind fremder und wirken gefährlicher, die Protagonisten sind jünger… und ein Leben noch billiger, wenn verwahrloste Jungens, die nicht älter als zehn Jahre alt sein können, nur mit Badehosen bekleidet mit fetten Revolvern hantieren. Gewalt ist allgegenwärtig in der Stadt Gottes, die unschwer als Hölle erkennbar ist. Aber sie ist niemals Selbstzweck, sondern hat immer Konsequenzen, ist immer schockierend und abstoßend, auch wenn sich diejenigen, die die Gewalt ausüben, daran ergötzen mögen.
Drei Kids stehen im Mittelpunkt dieses verschlungenen Stop-and-Go-Survivaltrips, der den Fuß stets auf dem Gaspedal zu haben scheint, sich aber doch genügend Zeit nimmt, seine Figuren ganz präzise zu zeichnen: Off-Erzähler Rocket, der der Gewalt abschwört und nur mit seiner Kamera schießt; Gangsterchef Benny, der geachtet wird, weil er Konflikte auch ohne den Einsatz von Waffen löst, und sich für ein Leben jenseits der Favelas begeistert; und Bennys Partner Lil‘ Dice, ein lupenreiner Psychopath, der seine Allmachtsgefühle willkürlich auslebt, auch wenn sie für andere den Tod bedeuten. Zu ihnen gesellen sich etwa 100 weitere Figuren, allesamt dargestellt von Laiendarstellern, die großteils selbst aus Elendsvierteln stammen. Meirelles nimmt sich ihrer Geschichten, Schicksale und Anekdoten mit einer Lust am Erzählen und Zeigen an, wie man es nur ganz selten erlebt. Er geht irrwitzige Umwege, hält die Erzählung schon einmal an, wenn eine neue Person einen Raum betritt, um dann sie in den Mittelpunkt einer Rückblende zu stellen, bis man wieder - diesmal aus anderer Perspektive - in besagtem Raum landet und die Situation damit mit ganz anderen Augen erlebt. Jumpcuts, Reißschwenks, Shuttertechnik, Beschleunigung, Verlangsamung - der einstige Werbefilmer bedient sich des gesamten Filmvokabulars der MTV-Generation, aber im Dienste des reinsten, pursten Kinos, das gleichzeitig fasziniert und sofort zur Auseinandersetzung zwingt, weil es hier keine Vorverurteilungen der Figuren gibt. Den Rhythmus gibt dabei ein brodelnder Cocktail aus Samba, Bossa und Funk (z.B. von Größen wie Tim Maia und Copa 7) vor, der ebenso hitzig und emotional ist wie der gesamte Film, der so authentisch wirkt, weil er so brillant inszeniert ist. ts.